Das Erdbeben in der Südosttürkei kostete mehr als 40.000 Menschen das Leben, über 80.000 wurden verletzt. Rund 16 Millionen Menschen sind direkt von den Auswirkungen der Naturkatastrophe betroffen. Christopher Jahn koordiniert für das Rote Kreuz die internationale Hilfe in der Türkei. Der Liesinger ist seit 2006 für das Österreichische Rote Kreuz tätig. Das WIENER BEZIRKSBLATT sprach mit dem Krisenmanager über die aktuelle Situation, wie internationale Katastrophenhilfe funktioniert und darüber, wie man von Wien aus am besten helfen kann.
WIENER BEZIRKSBLATT: Herr Jahn, Sie sind als internationaler Krisenmanager in Budapest tätig. Warum Budapest?
Christopher Jahn: In Budapest liegt die Zentrale des Internationalen Roten Kreuzes in Europa. Am Tag des Erdbebens haben die Kolleginnen und Kollegen vom Türkischen Roten Halbmond sofort mit der Katastrophenhilfe begonnen. Wie bei jeder größeren Katastrophe wird vor Ort von den Kollegen eingeschätzt, ob der Einsatz mit eigenem Personal bewältigt werden kann. Aufgrund des Ausmaßes hat der Türkische Rote Halbmond schnell gesehen, dass eine internationale Unterstützung sinnvoll und notwendig ist. Diese wird über Genf – dem Sitz des Internationalen Roten Kreuzes – an die „Europazentrale“ in Budapest gemeldet. Von dort aus wird die Unterstützung im europäischen Teil der Katastrophe, also in der Türkei, koordiniert. Der syrische Teil des Katastrophengebiets wird über Beirut koordiniert.
Sinn dieser überregionalen Koordination ist eine effiziente und rasche Hilfe. Andernfalls würde jede nationale Rotkreuz bzw. Rothalbmond Gesellschaft nach eigenem Ermessen Hilfsgüter, Spenden oder Personal entsenden.
Und da kommen Sie ins Spiel?
Genau. Meine Funktion heißt im Englischen „Operations Coordinator“, was im Deutschen am ehesten dem Krisenmanager entspricht. Eine Personalanforderung war eine Krisenmanagerin bzw. Krisenmanager für die Leitstelle in Budapest. Ich unterstütze die Kollegen in der Türkei, Genf und Budapest bestmöglich um einen effizienten Ablauf dieser Erdbebenoperation zu gewährleisten. Bin aber nur ein kleines Rädchen in der großen Maschine. Ich beschäftige mich vor allem mit Budgetplanung, Projektplanung und Reiseplanung. Und ich bin die Informationsdrehscheibe zwischen Feld – also Krisenregion – und der Region Europa. Ich sorge dafür, dass die Informationen an die richtigen Personen gelangen. Sonst würde die ganze Maschine nicht funktionieren.
Wie viel Personal des Roten Halbmondes bzw. Roten Kreuzes ist derzeit im Einsatz?
Derzeit sind direkt vor Ort über 5.000 Personen im Einsatz. Wie auch beim Österreichischen Roten Kreuz sind hier sowohl ehrenamtliche als auch angestellte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort. Aktuell sind vom Österreichischen Roten Kreuz drei Personen direkt in der Türkei. Ein Experte aus dem Bereich „WASH“ – Water, Sanitation and Hygiene Promotion – alles rund um das Thema Trinkwasser, Hygiene und Siedlungshygiene und alles, was benötigt wird um die Ausbreitung von Krankheiten zu verhindern.
Dann ist noch eine Expertin aus Österreich für die Datenerhebung in der Region. Die Kollegin fasst alle Daten zusammen und schafft die Grundlage für alle weiteren Entscheidungen. Eine weitere Kollegin ist Kommunikationsexpertin und bereitet für die deutschsprachigen Rot Kreuz Gesellschaften und die Öffentlichkeit Bild- und Videomaterial auf.
Vor welchen Herausforderungen stehen derzeit die Hilfskräfte und Menschen vor Ort?
Die allererste Akutphase, die Such- und Rettungsphase, in denen man noch lebende Menschen unter den Trümmern retten kann, neigt sich dem Ende zu. Diese findet in den ersten 10 bis 14 Tagen statt. Danach starten wir unmittelbar in die Nothilfephase. Menschenwürdige und sichere Unterkünfte werden geschaffen, Nahrungsmittel, Wasser und Sanitäranlagen werden zur Verfügung gestellt. Und ganz wichtig: Die Familienzusammenführungen.
Ein weiterer großer Punkt ist die psychosoziale Unterstützung. Menschen haben Familienmitglieder verloren oder wissen nicht wo diese zurzeit sind. Auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Roten Halbmonds bzw. Roten Kreuz werden psychologisch betreut.
Wo kommen die Menschen in der Türkei unter?
Über 200.000 Menschen haben sich aus der Erdbebenregion wegbewegt und kamen in benachbarten Regionen bei Freunden und Familie unter. Viele Menschen in der Region finden in öffentlichen Unterkünften oder ebenso im Freundeskreis Unterschlupf. Was wir auch derzeit sehen ist, dass die Mietkosten in der Region und in benachbarten Regionen in die Höhe schnellen. Viele Menschen kommen in Zelten unter. Der Türkische Rote Halbmond arbeitet eng mit den Behörden zusammen. Man hat viele winterfeste, beheizbare Zelte aufgestellt.
Was sind die mittelfristigen Herausforderungen?
Jetzt werden die Grundbedürfnisse – Unterkunft, Nahrung, Trinkwasser, medizinische und psychosoziale Unterstützung – zur Verfügung gestellt. In den nächsten Monaten werden wir mit unseren Partnern an der Wiederherstellung – im Englischen heißt es „livelihood“ – der Existenzgrundlagen forcieren. Die Menschen haben über Nacht ihre Geschäfte und Arbeitsstellen verloren. Das traf nicht nur große Firmen sondern vor allem Klein- und Einzelunternehmen wie Friseursalons, Waschsalons oder Cafés. Das alles ist zerstört und nicht mehr existent.
Und langfristig?
Wie gesagt, mittelfristig werden wir uns in den nächsten Monaten um den „livelihood“-Aspekt kümmern. Langfristig wird man am Wiederaufbau der Unterkünfte arbeiten. Aber das ist dann mehr eine staatliche Aufgabe. Inwieweit das Rote Kreuz und der Rote Halbmond daran noch mitwirken muss sich noch zeigen. Denn das Mandat, also die gesetzlich verankerte Aufgabe des Türkischen Roten Halbmondes, ist die die Versorgung der Bevölkerung im Katastrophenfall mit Nahrung und Hilfsgütern. Und das machen die Kolleginnen und Kollegen fantastisch. Allein in den ersten zehn Tagen stellten sie über 50 Millionen Nahrungsmittelportionen zur Verfügung. Das sind zum Beispiel über 30 Millionen heiße Mahlzeiten, die ausgeteilt wurden.
Wie kann man von Wien aus am besten helfen?
Da gibt es fast nur eine Antwort: Nämlich wirklich mit der Geldspende. In den letzten Jahren hat sich bei den Katastrophen gezeigt, dass man mit Sachspenden nicht weiterkommt. Wir unterstützen gemeinsam mit dem Roten Halbmond in den nächsten zwei Jahren 1,25 Millionen Menschen in der Türkei. Dabei ist es wichtig die Hilfe zentral zu beschaffen, zu organisieren und zu koordinieren. Sachspenden aus Österreich, Deutschland, Frankreich oder anderen Kontinenten irgendwie herzukarren würde die Hilfe sogar massiv behindern. Neben Zollformalitäten und nationaler Gesetzgebungen, die beachtet werden müssen, muss jede Sachspende geprüft und gelagert werden.
Mit Geldspenden können wir beispielsweise auf einmal 100.000 Zelte, die den gleichen Standards entsprechen, regional oder global besorgen. Nur wenn wir hochgradig effizient arbeiten, können wir in den nächsten zwei Jahren diese 1,25 Millionen Menschen versorgen. Aus Österreich kann man uns nur mit einer Geldspende supereffizient unterstützen. Daher die Bitte, spenden Sie uns oder anderen vertrauenswürdigen Organisationen am besten Geld.
Was passiert mit der Geldspende?
Ein gutes Beispiel: Wir haben eine Millionen Euro von „NACHBAR IN NOT“ erhalten. Wir konnten damit 10.000 „Kitchen Sets“, 3.000 Hygiene Pakete und 900 Familienzelte und mehr besorgen. Mit einem „Kitchen Sets“ kann eine Familie Essen zubereiten und verwahren. Ein Hygienepaket bringt eine fünfköpfige Familie ein Monat halbwegs mit Binden, Rasierschaum, Klopapier, Seife und Waschmittel über die Runden. In einem Familienzelt haben mindestens 5 Personen Platz. Damit können wir über 4.500 Menschen eine Notunterkunft bieten.
Ein Spendenbeitrag von 10 Euro finanziert ein Hygienepaket.
Das Interview wurde am 17. Februar 2023 via Telefon geführt.
So können Sie an das Österreichische Rote Kreuz spenden
www.roteskreuz.at/erdbebenhilfe
Spendenkonto
Österreichisches Rotes Kreuz
IBAN: AT57 2011 1400 1440 0144
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Kennwort: Katastrophenhilfe